Rudi Kost

Bi-ba-Bullenpack

Sjöwall/Wahlöös chronique scandaleuse der Klassengesellschaft

Beilage zur zehnbändige Kassette, Rowohlt 1986

 

I.

Meine erste Begegnung mit Martin Beck war eine Enttäuschung. Ich hatte hie und da schon gehört von diesen Schweden, doch ihre Bücher waren an mir vorübergegangen. Jemand schwärmte von der erbarmungslosen Sozialkritik und empfahl mir dringend, chronologisch zu lesen; ganz glasige Augen hatte er. So erstand ich also "Die Tote im Götakanal", amüsierte mich über die komische Wendung "die Uhr war", lernte, dass Straße auf schwedisch Gatan heißt und war hinterher einigermaßen verwundert über meine Freunde.[1] 

Das sollte die Revolution des zeitgenössischen Kriminalromans sein? Diese Geschichte um einen sonderbaren Sexualmord, der ohne des Zufalls kräftige Hilfe nicht aufzuklären gewesen wäre?

Aber Martin Beck war ganz nett, und deshalb las ich weiter. Ich war Sjöwall/Wahlöö auf den Leim gegangen.

II.

Dieser Martin Beck. Der schon im Zimmer steht, kaum dass er angeklopft hat. Wie er seinen rechten Ellenbogen auf den Aktenschrank stützt, sich die Nasenwurzel reibt, eine seiner Florida-Zigaretten anzündet, solange es die noch gegeben hat, und schweigt. Lachen hört man ihn selten. In der Regel schaut er griesgrämig drein, ein wenig deprimiert, dieser magere, nicht sonderlich große Mann, der sich ein wenig krumm hält und unauffällig gekleidet ist. Wenn er bei ei­ner seiner vielen Dienstreisen (er reist übrigens gern, nur in der U-Bahn wird ihm regelmäßig schlecht, weil er Men­schenansammlungen aller Art haßt) mit seiner Reisetasche etwas verloren auf dem Stockholmer Bahnhof herumsteht, kann man ihn durchaus für einen ratlosen Besucher vom Lande halten, der sich in dem Gewimmel der Großstadt nicht zurechtfindet. Martin Beck, alles in allem, ist ein unscheinbarer Mann. Aber mit enormen Fähigkeiten. Einmal wird er, mit ironischem Unterton, als das "Bollwerk gegen das Verbrechertum"[2] bezeichnet, er ist der geschickteste Vernehmungsleiter von ganz Schweden und überhaupt "unser bester Mann in der Mordkommission"[3] und so bekannt, dass er sogar in einem Stockholmer Restaurant von der Kellnerin erkannt wird; vorher hatte er geglaubt, so etwas könne nur im vergleichswei­se überschaubaren Malmö passieren.

Martin Beck, Superstar?

Ganz sind Sjöwall/Wahlöö dieser Gefahr nicht entgangen. Zumindest anfangs hat Martin Beck schon die leicht genialischen Züge des great detective. Seine Intuition wird gerühmt, mit der er meist richtig liegt, er erinnert sich an den entscheidenden Hinweis, ohne den sie den "Mann auf dem Balkon" nicht hätten aufspüren können, wenn er auch, ein durchsichtiger Spannungstrick, lange braucht, den Gedanken zu fassen, der ihm wiederholt durch den Kopf huscht.

Erst später wird dieses Image etwas relativiert, ohne dass Martin Beck deswegen seine Sonderstellung verlöre. Wenn er jetzt auf seine Intuition angesprochen wird, schaut er nur gequält, wie über einen abgestandenen Witz. Längst hängt die Aufklärung eines Falles nicht mehr von ihm allein ab. Er ist im Team seiner Mitarbeiter aufgegangen – interessanterweise desto mehr, je höher er in der Hierarchie steigt –, und manchmal tritt er sogar in den Hintergrund. Während seine Kollegen sich von ausgekochten Bankräubern übers Ohr hauen lassen, beschäftigt sich Martin Beck, Chef von Riksmordkommission, mit dem Gedankenspiel des locked room mystery, das einst eine ganze Generation von Krimi-Schreibern in Lohn und Atem hielt ("Verschlossen und verriegelt"). Die hintersinnige Ironie der Geschichte will es, dass Martin Beck sein Rätsel löst. Bloß kann er es nicht beweisen.

III.

Martin Becks mähliche Wandlung ist einer der hinterhältig­sten der nicht eben wenigen Tricks, mit denen Sjöwall/Wahlöö arbeiten. Die Intentionen ihres Romanwerks haben sie nie verschwiegen. Per Wahlöö 1967, als der dritte Band ("Der Mann auf dem Balkon") erschienen war: "Seine Idee besteht darin, in einem langen Roman von ca. dreitausend Seiten [...] einen Längsschnitt durch eine Gesellschaft von einer be­stimmten aktuellen Struktur zu legen, die Kriminalität als soziale Funktion zu analysieren und ihre Relation sowohl zu der genannten Ge­sellschaft als auch zu den moralischen Lebensformen verschiedener Art, die diese umgeben, offenzulegen.[4]

Sjöwall/Wahlöö waren sich im klaren darüber, dass diese Art Roman behutsam angesteuert sein will, und als Kriminal­roman zumal, der ja auf eine bestimmte Erwartungshaltung trifft, die sich nicht auf Anhieb mit der Zielsetzung Sjöwall/Wahlöös in Einklang bringen lässt. Die Tradition des aseptischen "klassischen" englischen Detektivromans hatte nachhaltig genug gewirkt.

Man muss sich das literarische Umfeld jener Zeit vor Augen halten. 1965, als der erste Band des Zyklus', "Die Tote im Götakanal", veröffentlicht wurde, war Raymond Chandler sechs Jahre tot und Dashiell Hammett vier, und Agatha Christie, Erle Stanley Gardner und Rex Stout strickten noch immer höchst erfolgreich das gleiche Muster. Im Jahr zuvor waren einige Serien neu entstanden. Joyce Porter erfand den Trampel Dover, H.R.F. Keating Inspector Ghote, Harry Kemelman den Rabbi, John D. MacDonald seinen Travis McGee, Ruth Rendell Chief Inspector Wexford. 1965 hatte in der Bundesre­publik mit Hansjörg Martins "Gefährliche Neugier" zaghaft der neue deutsche Kriminalroman begonnen, aber Ed McBain war beim 18. oder 19. Band seines 87. Polizeireviers, Nicolas Freeling bei seiner fünften Van der Valk-Geschichte, "Criminal Conversation", und Simenon hatte so ungefähr 67 Maigrets hinter sich.

Die Innovationen waren geschehen, das Genre hatte seine vielfältigen Formen erprobt und begann, sie zu vervollkommnen und zu variieren. Grundlegend Neues war nicht zu erwarten, schon gar nicht von der schwedischen Journalistin, Verlagsredakteurin, Layoutzeichnerin und Übersetzerin Maj Sjöwall, geboren 1935 in Stockholm, und dem neun Jahre älteren Per Wahlöö aus Lund, dem Journalisten und langjäh­rigen Spanien-Korrespondenten, Kommunist, der 1956 vom Franco-Regime des Landes verwiesen worden war.

Hierzulande wusste noch keiner – und in Schweden übrigens die wenigsten –, dass Per Wahlöö im Alleingang schon eini­ge höchst irritierende Polit-Thriller geschrieben hatte, die manches vorwegnahmen, was später im Beck-Zyklus (nennen wir ihn so; im schwedischen Original hat die Serie den Untertitel "Roman om en forbrydelse", Roman über ein Verbrechen) wiederkehrte, die über weite Strecken wie der erste, unfertige Entwurf einer großen, noch zu ungestümen, literarisch nicht genügend kanalisierten Wut wirken.

Zumindest die ersten beiden Beck-Romane, "Die Tote im Götakanal" und "Der Mann, der sich in Luft auflöste", waren von ihrer Machart her konventionelle Krimis, ausgerichtet auf die Zentralfigur Martin Beck, erzählt aus seiner Perspektive. Wenige, nicht weiter auffallende Randbemerkungen über die Bürokratie oder eine gewisse Sorte von Politikern, wie man sie anderswo genauso lesen konnte; als Täter, wie gehabt, Einzelschicksale ohne weiteren Bezug zur sozialen Umgebung: ein offensichtlich verrückter Frauenmörder und ein Journalist, den verletzende Bemerkungen über seine Freundin in verständliche Rage brachten. Immerhin: kein unbekanntes Gift oder sonstige obskuren Mordwerkzeuge und eine (zu der Zeit) ungewohnte Offenheit in sexüllen Dingen.

Sjöwall/Wahlöö verschafften ihren Lesern noch eine Atempause, stimmten sie ein auf die Personen, auf ein Land, eine Stadt. Sjöwall/Wahlöö waren unüberlesbar darum bemüht, nicht zu früh zu schockieren, erst ein Publikum zu bilden. In der Bundesrepublik übrigens war der Beck-Zyklus anfangs keineswegs ein Riesenerfolg. Schlecht lief er nicht, doch erst der sechste Band, "Und die Großen lässt man laufen", ließ die Verkaufszahlen sprunghaft ansteigen und zog auch die anderen Romane mit.

Der aufmerksame Leser stieß auf lauter Bekanntes und konnte verfolgen, wie sich die Autoren ungeniert im Arsenal der Kriminalliteraturgeschichte bedienten. Allerdings war bald zu sehen, dass sie das Vorgefunde konsequent ausschöpften und daraus eine Synthese schufen, die es so noch nicht gab.

Das Team der Polizisten statt des bis dahin vorherrschenden Einzelkämpfers stammte von Ed McBain (den Sjöwall/Wahlöö ins Schwedische übertragen hatten). Die streng chronologische, zyklische Entwicklung der Handlung und der Figuren statt des alters- und zeitlosen Helden hatte Nicolas Free­ling (als erster, wenn ich nicht irre) vorgezeichnet; ihm ist auch zu danken, dass das Privatleben des Helden nicht mehr nur exzentrisches Acessoire ist, sondern konstituierender Bestandteil der Figur. Und Martin Beck – nun, der war eine reine Maigret-Figur, mit unendlicher Einfühlsamkeit und unendlichem Verständnis für die Menschen, mit denen er berufsmäßig zu tun hat. 1965 war dies gewiss der richtige Weg, die Leser anzulocken. Ich hatte das ja an mir selber erfahren.

Wenigstens die ersten drei Romane sind zudem, gelinde gesagt, Heroisierungen der Polizei. Geradezu penetrant insistieren die beiden Schweden auf die nervliche und körperliche Belastung der Kriminalbeamten, auf ihre Aufopferung zum Wohle der Allgemeinheit: "Er verwünschte seine Neugierde, die ihn diesen sinnlosen Auftrag hatte übernehmen lassen. [...] Das allerschlimmste war, dass er genau wusste, nicht von irgendeinem Impuls getrieben zu sein. Lediglich sein Polizistencharakter, oder wie man es sonst nennen wollte, war in Funktion getreten. Derselbe Trieb, der Kollberg veranlaßte, seine Freizeit zu opfern. Eine Art Berufskrankheit, die ihn zwang, alle Aufträge zu übernehmen und sein Bestes zu tun, sie zu lösen."[5]

Martin Beck, Superstar. Wie glücklich ein Land, das solche Polizisten hat!

Im dritten Band ("Der Mann auf dem Balkon") freilich ist alles anders. Die ersten Korrekturen am idealisierten Bild der schwedischen Polizei beginnen. Unsere nimmermüden Helden sehen ihren selbstlosen Einsatz plötzlich konterkariert durch Fehlverhalten auf allen Ebenen. Dieser Roman ist die Wende. Sjöwall/Wahlöö lassen die Maske fallen. Die perso­nale Erzählweise aus der Sicht Martin Becks wird aufgegeben zugunsten verschiedener Erzählperspektiven. Immer häufiger beginnen die Romane mit der Beschreibung des Täters oder der Tat, laufen mehrere Erzählstränge parallel, bedienen sich Sjöwall/Wahlöö der filmischen Schnitt-Technik und springen zwischen gleichzeitig laufenden Handlungen hin- und her.

Aus dem reportagehaften Stil spricht die journalistische Vergangenheit der beiden Autoren. Die Romane beziehen aktu­elles Hintergrundmaterial wie etwa Statistiken mit ein, sie sind exakt datiert, mitunter bis auf die Minute genau, zwischen die großen, handlungsbestimmenden Fälle ist die un­bedeutende Alltagsroutine eingestreut. Das unterscheidet sich gewaltig von der alten Whodunit-Formel. Der Autor ist nicht mehr der sorgfältige Arrangeur eines Puzzle-Spiels aus Fakten und falschen Fährten. Er mischt sich ein, er be­zieht Stellung, er provoziert den Leser.[6]

Dessen Mitdenken soll sich nicht auf die Enträtselung des Mörders beschränken (obschon Sjöwall/Wahlöö dieses Element, als typisches Spannungsmittel des Genres, in allen ihren Bü­chern beibehalten), er soll sich vielmehr auseinandersetzen mit dem, was einen Menschen zum Mörder macht und was dies verrät über die Welt, die Gesellschaft, in der er lebt.

Diese Entwicklung beginnt im dritten Band, und die sozialkritischen Passagen kommen abrupt, unvermittelt, übergangslos. Man hat das Sjöwall/Wahlöö oft vorgeworfen[7], in ei­ner Beziehung durchaus zu Recht: die Beschreibung der Missstände ist zwar umfassend und wird von Mal zu Mal umfangreicher, die Tonart zynischer, hämischer, gnadenloser, bei der Analyse dessen, was sie kritisieren, kommen sie jedoch immer nur auf die gleichen Schlagworte zurück. Sie konstatieren eine "Schuld der Sozialordnung"[8], eine "falsche[...] Philosophie, die durch das verfaulte System unterstützt wird".[9]

Später nennen sie das Ding beim Namen: der Kapita­lismus ist die Wurzel allen Übels, er ist das "Verbrechen", von dem der gesamte Zyklus handelt und worauf der schwedische Untertitel verweist. Die Triebtäter, Mörder und Bankräuber sind nur ein Produkt dieser Gesellschaft, dieses Kapitalismus'. (Im Umkehrschluss: ohne Kapitalismus ... aber so weit gehen sie dann doch nicht.)

Eingehend allerdings beschäftigen sie sich mit dessen Auswirkungen. Davon erzählen ihre Romane. Ihre Täter entstammen zumeist den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten und sind einsame, verlassene, isolierte Menschen; Großstadtprodukte. Die Täter – das ist seitdem auch ein Schlagwort – sind die Opfer: des Systems; nur fähig, in einem Ansturm der Gefühle sich von dem Druck, der auf ihnen lastet und der oft gar nicht bewusst wahrgenommen wird, zu befreien. Am erschütterndsten, bezeichnendsten ist für mich eine kleine Randszene in "Alarm in Sköldgatan", als ein Mann auf seine Frau losgeht, nur damit sie mit ihrer ewigen Nörgelei aufhört, und heimtückischerweise stellt sie sich tot. Der große gesellschaftliche Kampf um Macht setzt sich da im Kleinen auf entsetzlich dumpfe Weise fort.

Die Wut trifft oftmals die Falschen; aber manchmal sucht sie sich auch ihre Opfer zielbewusst. Das "Ekel aus Säffle", jener faschistoide Polizist, der seine Untergebenen beispiellos schikaniert und die Bevölkerung terrorisiert – kein Wunder, dass einer, und pikanterweise aus den eigenen Reihen, Amok läuft, weil die sadistischen Methoden des Ekels seine Frau zu Tode brachten. Die Unternehmer, die Kapitalisten, die in ihrem Gewinnmaximierungseifer und mit der Entschuldigung mangelnder Rentabilität rücksichtslos über jegliche Humanität hinwegtrampeln – verständlich, dass einer, dessen Leben durch solche Praktiken zerstört wurde, hingeht und einen dieser Kapitalisten erschießt ("Und die Großen lässt man laufen"). Die Politiker endlich. Konsequent gipfelt die gesamte Serie im Mord am Ministerpräsidenten; die Figur der Rebecca Lind in ihrer unschuldsvollen Naivität ist eine literarische Meisterleistung.

V.

Was machen die Politiker falsch? Seltsamerweise bleiben Sjöwall/Wahlöö hier vage, und übrigens nennen sie niemanden von Schwedens Polit-Prominenz beim Namen – weil es ohnehin austauschbare Figuren sind? (Dafür taucht wieder­holt – dreimal, wenn ich richtig gezählt habe –, ein ameri­kanischer Provinzpolitiker namens Ronald Reagan auf; Sjöwall/Wahlöö hatten ein Gespür dafür, dass aus einem, der Vietnam am liebsten zubetoniert hätte, noch etwas werden kann.)

Viel ist die Rede von der Zerstörung der Städte, Stockholms insbesondere. Halb durchgeführte oder einfach ver­fehlte Stadtplanung, zynische Bautätigkeit – "Kapitalistenbunker" nennen Sjöwall/Wahlöö die "ungewöhnlich schlecht gebaute[n] Häuser mit ungebührlich hohen Mieten"[10] –haben das Gesicht der Stadt, ihren Charakter grundlegend gewandelt. Stockholm ist zu einer gesichtslosen, anonymen, verdreckten Stadt geworden. Die Stadt prägt, fesselt ihre Bewohner, stößt sie hinab. Die Stadt ist unmenschlich, sie macht unmenschlich. Es herrschen Elend, Hass, Gewalt. "Die Leute hier haben Angst. Normale, freundliche Menschen. Wenn man nach dem Weg fragt oder um ein Streichholz bittet, dann laufen sie beinah davon. Die fürchten sich ganz einfach. Fühlen sich unsicher", wundert sich einer, der vom Lande kommt.[11]

Sjöwall/Wahlöös Rezept dagegen ist pure Nostalgie und Flucht in die Idylle. Der düsteren Gegenwart werden Remi­niszensen an eine schöne Vergangenheit entgegengesetzt, "bevor Tabakrauch, Benzindünste und gereizte Schleimhäute Gelegenheit gehabt hatten, die Sinne ihrer Schärfe zu berauben".[12]

Malmö, immerhin, wo Sjöwall/Wahlöö seit 1969 lebten, ist eine kleine glückliche Insel im Vergleich zu Stockholm, oder besser: war es; auch diese Stadt kann sich der Entwicklung nicht entziehen, die Autoren verfolgen das mit Entsetzen. Bleibt einzig das Land, wie es in "Der Polizistenmörder" beschworen wird – die spätere Flucht aufs Land und die Alternativbewegung der frustrierten Linken ist da schon angedeutet (wie übrigens die Öko-Bewegung auch).

Die Verkrustung der Stadt und als deren Folge die Verkru­stung der Gefühle: das eine Sinnbild für die Missstände der kapitalistisch-demokratischen Gesellschaft; die Verkru­stung der Polizei ist das andere. Ähnlich wie bei John le Carré der Geheimdienst, wird bei Sjöwall/Wahlöö die Poli­zei zum Gradmesser für die Bewußtseinslage der Nation. Sjöwall/Wahlöö entdecken in Schweden mit seiner langen, modellhaften sozialdemokratischen Tradition einen latenten Hang zum Faschismus – da greift Per Wahlöö auf das Grundthema seiner Solo-Romane zurück. Die Verstaatlichung der Polizei 1965 (Zufall, dass in diesem Jahr das erste Beck-Buch erschien?), auf die immer wieder angespielt wird, hat einen Trend zum Polizeistaat ausgelöst. Die "Zentralisierungs- und Militarisierungsbestrebungen"[13] versinnbildlichen sich in dem gigantischen Polizeihauptquartier auf Kungsholmen, dessen Bau über mehrere Bände hinweg verfolgt wird.

Zu der Zeit ist von den Idealisierungen der Anfänge nicht mehr viel zu spüren, hat sich der Polizei-Roman längst zum Anti-Polizei-Roman entwickelt.[14] Die Inkompetenz von  Rikspolisstyrelsen, der Reichspolizeiführung, wo das Parteibuch, nicht die Fachkenntnisse die Karriere bestimmen, hat bis nach unten durchgeschlagen. Die Polizei, ständig über Personalmangel klagend, nimmt offenbar jeden, schlechtes Zeugnis, mangelhafte Schulbildung, miserable Charakterei­genschaften sind kein Hinderungsgrund. Ein großer Teil der Polizei gilt als bestechlich und als "ignorante Schlägertypen oder Rüpel in Uniform".[15]

Als Kind, erklärt Martin Becks Tochter Ingrid, habe sie angeben und stolz darauf sein können, dass ihr Vater bei der Poli­zei sei, aber jetzt hänge sie das lieber nicht mehr an die große Glocke – es ist die Zeit, die als Studentenrebellion in die Geschichtsbücher eingegangen ist und in der die Polizei, nicht nur in Schweden, ihr sorgsam gepflegtes Image als Freund und Helfer verloren hat. Ihr Ansehen ist miserabel, ihre Empfindlichkeit indessen umso größer. "Bi-ba-Bullenpack" ruft ein Dreijähriger einer Streifenwagenbesat­zung hinterdrein, und diesem Fall von Beamtenbeleidigung muss mit Vorrang nachgegangen werden, auch wenn deswegen ein gesuchter Mörder entwischt.

Das so schwer beleidigte Polizisten-Duo Karl Kristiansson und Kurt Kvant (das Janwillem van de Wetering später mit Ketchup und Karate wieder aufnimmt, aber ungleich stärker ins Absurde treibt) gehört zu einer ganzen Mannschaft "Bullenpacks", die Sjöwall/Wahlöö im Laufe der Zeit aufgebaut haben: rechthaberische, unfähige, dumme, faule  Polizisten. Gunvald Larsson fasst sie im letzten Band in einer SK-Liste zusammen – was soviel heißt wie "sämtliche Knallköpfe"; sie bei wichtigen Einsätzen in der Wachstube einzuschließen, ist der beste Dienst, den man Allgemeinheit erweisen kann. Aber prompt interpretiert jemand SK als Spezialkommando, und so nimmt das Unheil seinen Lauf ...

Die grotesken, farcenhaften Züge sind für den Beck-Zyklus ebenso kennzeichnend wie die kommentierenden Passagen. Die Erstürmung des leeren Zimmers der Bankräuber Malmström und Mohren in "Verschlossen und verriegelt" beispielweise ist ein Musterfall effektvoll choreographierten Slapsticks – wenn es gilt, Spannung zu erzeugen und unterhaltsame Gegengewichte zu den politischen Episteln zu schaffen, schrecken Sjöwall/Wahlöö auch vor billigen Effekten nicht zurück: auf der Klaviatur der literarischen Tricks spielen Sjöwall/Wahlöö souverän. Die meisten ihrer Geschichten sind auf beinahe schon schamlose Weise overwritten, wie das die Fachleute nennen, überkonstruiert, weil ein Steinchen so haargenau zum andern passt. Aber das kümmert sie nicht im mindesten. Warum auch. Die Handlung ist gewissermaßen das notwendige Zugeständnis an den Lesergeschmack. Viel wichtiger ist ihnen anderes.

VI.

Gesellschaftskritische Züge im Kriminalroman gibt es nicht erst seit Sjöwall/Wahlöö. Sie gehören, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, zum Genre. Sie lassen sich selbst bei Agatha Christie finden, wenn man sie nur gegen den Strich liest, und bei Dorothy Sayers bereits weitet sich der Kriminalroman zum Gesellschaftsroman. Allerdings haben Sjöwall/Wahlöö weitaus scharfsichtiger begriffen, wozu der Kriminalroman fähig ist, und weitaus ernster genommen als irgendeiner vor ihnen, was Raymond Chandler über Dashiell Hammett sagte: "Hammett brachte den Mord zu der Sorte von Menschen zurück, die mit wirklichen Gründen morden, nicht nur, um dem Autor eine Leiche zu liefern."[16]

In "Und die Großen lässt man laufen", "Das Ekel aus Säffle" und in "Verschlossen und verriegelt" beispielsweise sind die Täter aufgrund von Umständen zu ihrer Tat getrieben worden, die direkt in der von Sjöwall/Wahlöö gemeinten Fehlentwicklung der schwedischen Gesellschaft zu suchen sind. Auch der Massenmörder Forsberg in "Endstation für neun" ist auf seine Weise ein Opfer des Systems: er fürchtet den Verlust von sozialer Stellung und Ansehen. Hier ist ein Ver­treter der besitzenden Klasse noch der Täter, zwei Romane später wird er das Opfer sein.

Mit ihren kommentierenden, kritisierenden Einschüben fundieren Sjöwall/Wahlöö gleichsam ihre Handlungen und Figuren: sie liefern das soziologische, statistische, psycholo­gische Material, vor dessen Hintergrund die Tat erst ver­ständlich wird – und das gesamte Umfeld, das für die Tat verantwortlich ist: Sjöwall/Wahlöös Täter, Einzelperso­nen aus Gründen der literarischen Ökonomie, sollen nicht als Einzelschicksale verstanden werden, sondern stellvertretend stehen für viele andere. Dass Sjöwall/Wahlöö hier­bei das bewährte Mittel des Erzähler-Eingriffs benutzen, konnte nur deshalb auf Widerspruch stoßen, weil es im mo­dernen Kriminalroman so selten ist. Dessen (wie überhaupt der Unterhaltungsliteratur) ungeschriebene Formgesetze verlangen, dass Theorien in Handlungen, Informationen in Dialoge aufzulösen sind. Der Autor versteckt sich hinter seinen Figuren.

Damit brechen Sjöwall/Wahlöö. Die Autoren selber beziehen Stellung, entblößen sich ideologisch, machen sich angreifbar. Einer emanzipatorischen, diskursiven Beschäftigung mit den vorgeblich bloß unterhaltenden literarischen Texten dient das allemal, zumal dann, wenn die Identifikationsfiguren sich den Autorenthesen verweigern. Abgesehen von den letzten zwei Bänden, das verdient festgehalten zu werden, entsagen Sjöwall/Wahlöö der Versuchung, eine ihrer Figur als Thesenträger zu missbrauchen. Weiter als zu gelegent­lichen kritischen Bemerkungen reicht das politische Engagement der Männer um Beck nicht.

VII.

Wie Sjöwall/Wahlöö ihre Hauptfiguren konstruieren und mit ihnen umgehen, zeugt von beträchtlichem literarischen Geschick und sucht seinesgleichen. Sie haben die Chancen ergriffen, die andere vor ihnen verstreichen ließen.[17]

Alle Personen des Teams um Martin Beck sind eigenständige, durchgezeichnete Figuren mit Fähigkeiten und Aufgaben, die über bloß dienende Funktion (hierarchisch wie literarisch gesehen) weit hinausgehen. Im Team sind die Eigenschaften, die sich vordem im great detective konzentrierten, auf mehrere Personen verteilt, der Supermann hat gleichsam eine Zellteilung durchgemacht. Melander mit dem Elefantengedächtnis – die Nützlichkeit einer solchen Figur, die auf elegante Weise Hintergrundwissen einbringen kann, hat auch John le Carré erkannt. Rönn mit der Schniefnase, ein farbloser, doch tüchtiger Beamter. Der zahnstocherkauende Mansson aus Malmö, der durch nichts zu erschüttern ist. Der junge Skacke, der einmal Polizeichef werden will. Gunvald Larsson, der Snob mit den vulgären Manieren, den man am ehesten noch als Bannerträger für Sjöwall/Wahlöös po­litische Thesen ansehen könnte, weil er die radikalsten Meinungen vertritt und gleichwohl irritierenderweise die zweifelhaftesten, fast faschistoiden Mittel anwendet. Len­nart Kollberg, der gemütvolle Dicke, erklärter Pazifist und stets ohne Waffe, seitdem er einmal unbeabsichtigt einen Kollegen erschossen hat, Martin Becks treuester Kollege und einziger Freund.

Sie alle werden nicht mehr nur als Polizisten vorgestellt, sondern ebenso als Menschen in ihrem Privatleben, mit ihren Problemen und Sorgen: Mansson mit seiner Wochenendehe, Me­lander mit dem enormen Schlafbedürfnis, Gunvald Larssons teurer Kleidergeschmack, und das verschwundene Feuerwehrauto von Rönns Sohn dient sogar als running gag in "Alarm in Sköldgatan", freilich mit Bezug zum aktüllen Fall. Trotzdem bleiben Beruf und Privatleben zwei getrennte Bereiche. Erst im letzten Band etwa verliert Gunvald Larsson seine Fähigkeit, alle Arbeit zu vergessen, sobald er das Polizei­gebäude verlassen hat.

Bei Lennart Kollberg ist das anders. Da funktioniert die Trennung nicht. Er nimmt, was ihn beruflich belastet, mit hinüber ins Privatleben. Schon früh, im dritten Band, klingen bei Kollberg Zweifel an seiner beruflichen Arbeit an, ein Band später zeichnet sich sein späteres Ausscheiden bereits ab: "Wenn ich dich nicht hier hätte, wäre ich schon längst nicht mehr bei dem Haufen", sagt er zu Martin Beck[18]  – und sagt es immer wieder, bis er schließlich die Konseqünzen zieht. Sein Unbehagen freilich ist eher unbestimmt und emotional begründet, erst sein Abschiedsschreiben, eine Generalabrechnung mit dem Zustand der Polizei, Zusammenfassung von Sjöwall/Wahlöös über mehrere Bände hinweg entwickelter Kritik, liefert die rationale Begründung nach – der Sjöwall/Wahlöö freilich die Spitze nehmen, weil Kollberg sein Ausscheiden ausdrück­lich nicht als politischen Akt versteht. Was es natürlich doch ist. Der Ex-Polizist und Pazifist Kollberg, der jetzt im Armeemuseum Waffen sortiert, wird plötzlich zum Sprach­rohr extremster politischer Meinungen, was zwar als logische Folge seines Ausscheidens angesehen werden kann, doch mit der Figur nicht entwickelt wurde: das einzige Mal, dass Sjöwall/Wahlöö einen solchen Bruch riskieren, während sie sonst alle Veränderung langsam ansteuern.

VIII.

Und natürlich fällt Martin Beck aus dem Rahmen. Bei aller Betonung des Teams bleibt er doch der Mittelpunkt, die Klam­mer für die anderen Figuren, die literarisch dominierende Gestalt. Sjöwall/Wahlöö wollen nicht auf die bewährte Identifikationsfigur verzichten, aus erklärlichen Gründen. Aber ebenso offensichtlich haben sie mit dieser Figur auch ihre Schwierigkeiten.

Dass Martin Beck in "Das Ekel aus Säffle" angeschossen wird, hat Symbolcharakter und seine Parallele, fünf Jahre früher, bei Nicolas Freeling. Auch bei Freeling wird (in "Bluthund") Van der Valk niedergeschossen, von da an schreibt Freeling zielstrebig dem Ende entgegen. Van der Valk hat sich selbst überlebt. Für einen Detektiven seiner Schule, die sich, trotz aller Distanzierungen, immer noch auf Maigret zurückführt, ist kein Platz mehr. 

Sjöwall/Wahlöö gehen vom gleichen Gedanken aus einen an­deren Weg. Einem Triebtäter, einem Verzweiflungstäter ist Martin Beck gewachsen. In ihn kann man sich hineindenken, ihn kann man, mit allen Tricks des Polizeiapparates und der Psychologie, in die Enge treiben, weil er sich ans Leben und an die kleine Hoffnung klammert, unentdeckt zu bleiben. Wenn sich aber ein Mensch mit einem ganzen Waffenarsenal auf dem Dach eines Hauses verschanzt und es ihm gleichgültig ist, ob er davonkommt oder nicht, weil er ohnehin mit dem Leben abgeschlossen hat und nur noch Rache nehmen will: dann muss ein Martin Beck versagen. Sein Versuch, statt mit den bewährten, mit seinen Mitteln den Täter mit Aktionismus, also auch mit Gewalt zu überwältigen, ist geradezu rührend in seinem vorhersehbaren Scheitern.

Ersichtlich kamen Sjöwall/Wahlöö an diesem Punkt mit der Figur Martin Beck nicht mehr zurande. Sie war in eine Sack­gasse geraten, sie brauchte neue Impulse. Auch bei Sjöwall/Wahlöö beginnt mit dem Schuss auf die Hauptfigur der Endspurt der Serie – aber der Schuss ist der Anfang einer Entwicklung, welche die Figur zu neuen Höhepunkten treibt.

"Verschlossen und verriegelt", eben, weil es auf ein tradi­tionelles Muster zurückgreift, führt die Wandlung der Kri­minalität und damit auch des Kriminalromans vor Augen. Schon "Alarm in Sköldgatan" hatte einen internationalen Verbrecherring eingeführt. Der war aber noch zu knacken, weil die schwedische Filiale aus Amateurgangstern ohne das notwendige Format bestand. "Verschlossen und verriegelt" hingegen handelt von wirklichen Profiverbrechen. Da geht es nun nicht mehr darum, die sozialen Ursachen einer Verzweif­lungstat zu ergründen, und deshalb kann man den eben genesenen Martin Beck dabei nicht brauchen. Man gibt ihm als kleine Denksportaufgabe jenes locked room mystery, eines der ältesten und abgenudeltsten Klischees der Kriminallite­ratur (worauf in dem Roman auch ständig hingewiesen wird). Martin Beck löst es, bei seiner Schulung ist das selbstverständlich, aber damit ist dann dieses Kapitel Kriminalliteraturgeschichte, ist das Kapitel Maigret abgeschlossen; es wird nur noch ironisch darauf Bezug genommen. Genau zur selben Zeit, 1972, verabschiedet Nicolas Freeling seinen Van der Valk endgültig und läßt ihn sterben.

Für Martin Beck beginnt jedoch ein neues Leben, und zwar bemerkenswerterweise zunächst im privaten Bereich, was dann später auch seine Auffassung von seinem Beruf ändern wird. Es war ein geschickter Zug, Martin Beck konsequent aus der politischen Kritik herauszuhalten. Politisch ist Martin Beck ein Neutrum. Sobald die Rede auf Politik kommt, zieht er sich in sich zurück und schweigt. Erst die Begegnung mit Rhea Nielsen macht aus Martin Beck einen anderen Menschen. Man hört ihn lachen, er ist aufrichtig zu sich und anderen, er kann sich sogar vorstellen, mit Gunvald Larsson befreundet zu sein. Und: er wird vorsichtig politisiert. Gegen das Mao-Poster, das Rhea in seine Wohnung hängt, hat er nichts einzuwenden. Er äußert politische Meinungen, wird widerspenstig seinen Vorgesetzten gegenüber, er sieht seine Arbeit, sein Land kritischer, ohne freilich zu den Verbalradikalismen Gunvald Larssons, zu den persönlichen Konsequenzen Kollbergs zu kommen. Er bleibt weiterhin die Identifikationsfigur, an der sich der Leser aufrichten, die ihn nicht verstören soll. An ihm vollzieht sich der Emanzipationsprozess, den sich die Autoren von ihren Lesern wünschen. Martin Beck darf nicht sterben. Er verkörpert das kleine Stückchen Hoffnung, das Sjöwall/Wahlöö ihren Lesern mitgeben.

IX.

In "Der Polizistenmörder" tauchen zwei Figuren, zwei Mör­der aus früheren Büchern wieder auf: Folke Bengtsson aus "Die Tote im Götakanal" und Ake Gunnarsson aus "Der Mann, der sich in Luft auflöste". Das ist kein Zufall. Mit beiden Fällen verbinden sich für Martin Beck unbehagliche Erinnerungen. Jetzt, da Martin Beck sich zu emanzipieren beginnt, ist es an der Zeit, auch die Vergangenheit aufzuarbeiten, sich mit ihr auseinanderzusetzen, eine neue Stellung zu sich selbst zu beziehen. Beiläufig streuen Sjöwall/Wahlöö in "Die Terroristen" Reminiszensen an die früheren Fälle ein. Und auf der letzten Seite des letzten Romanes wird, nochmals, Folke Bengtsson erwähnt, der Mann, mit dem alles anfing.

So schließt sich der Kreis. Im Gegensatz zu anderen Krimi-Serien ist der Beck-Zyklus tatsächlich ein Zyklus, der im­mer wieder an Vorhergehendes erinnert. Die einzelnen Romane stehen nicht für sich, sie sind aufeinander bezogen und zeigen einen Ausschnitt aus der schwedischen Geschichte. Im Verlauf einer Dekade, von Montag, dem 8. Juli 1964, kurz nach 15 Uhr, bis Freitag, dem 10. Januar 1975, abends, machen der Staat, macht die Gesellschaft und machen mit ihnen die einzelnen Menschen tiefgreifende Veränderungen durch. Für Sjöwall/Wahlöö bezeichnet diese Dekade den Niedergang der bürgerlichen Kultur, den Verfall eines Gemeinwesens.

Seltsamerweise taugt der Zyklus dennoch wenig als historisches Quellenmaterial. Konkrete politische oder gesellschaftlich-kulturelle Ereignisse – Vietnam-Demonstrationen, die CSSR-Krise, Rhodesien, die Beatles – werden nur beiläufig erwähnt. So chronikhaft sich der Zyklus gibt, nicht zu­letzt wegen seiner genauen Datierungen, er ist keine Chronik im eigentlichen Sinne – höchstens die chronique scandaleuse der Klassengesellschaft und des Kapitalismus, die zwar hi­storisch festzumachen ist, jedoch unabhängig von zeitaktu­ellen Ereignissen geschrieben werden kann.

Hier haben sich Sjöwall/Wahlöö zweifellos eine Gelegen­heit entgehen lassen. Denn die Zeit, die sie schildern, war ja eine Epoche des gewaltigen geistigen Umbruchs. Doch dafür hatten die beiden Schweden offenbar keinen Sinn – oder es ist ihnen in der Konzentration auf das Polizeisujet schlicht aus dem Blick geraten. Der Studentenrebellion, der Hippie-Bewegung, die auch das Drogen- und Terrorismusproblem nach sich zogen, stehen Sjöwall/Wahlöö erstaunlich hilflos und unverständig gegenüber. Für die Jugendlichen mit ihrer Suche nach neuem Lebenssinn, die aus einer Ablehnung eben jener Gesellschaft kommt, die Sjöwall/Wahlöö so angreifen, haben die beiden Autoren nur abfällige Bemerkungen: für sie sind das "ungewaschene, haschrauchende jugendliche Landstreicher".[19] 

Und die gesellschaftspolitischen Möglichkeiten, welche die Studentenbewegung aufriss, die Chancen, die in der Folge vertan wurden, mißachten sie ganz. Verstellte hier die ideologische Fixierung den Blick? Passte das einfach nicht ins Schema, wären da Erklärungs­versuche vonnöten gewesen, denen sich Sjöwall/Wahlöö doch stets entziehen? Wäre gar die letzlich deprimierte, hoffnungslose Grundtendenz der Romane nicht mehr zu halten gewesen?

X.

Aber sie trafen, trotzdem, auf eine Stimmung. Wer als gestandener Ex-Achtundsechziger auf sich hielt, hatte bald seinen Sjöwall/Wahlöö aus der Rocktasche lugen; viel­leicht schwang auch ein bisschen Wehmut mit. Der Zyklus war noch nicht zu Ende geschrieben, da gehörten Sjöwall/Wahlöö schon wie Doyle, Chandler oder Simenon zu den Übervätern der Kriminalliteratur, an denen keiner vorbeikommt. Ich hatte meinen Lese-Rückstand seinerzeit rasch aufgeholt, und mit der gleichen Faszination wie damals habe ich jetzt die zehn Romane wieder gelesen und werde wohl immer wieder auf sie zurückgreifen. Gleich, ob man ihrer ideologischen Argumentation folgt, unbestritten bleibt, dass Sjöwall/Wahlöö in vieler Beziehung erstaunlich hellsichtig eine Entwicklung geschildert haben, vor der niemand die Augen verschließen kann. Nirgends.[20]

Und außerdem liest sich das natürlich auch spannend.



[1] Zu meiner unendlichen Beruhigung befand ich mich in illustrer Gesellschaft. Vgl. Helmut Heißenbüttel: Ins Dickicht des politischen Verhängnisses. Der Krimi im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang: das Autorenteam Sjöwall/Wahlöö. Vorwärts Nr.14, 7. April 1977

[2] Der Mann auf dem Balkon, S. 67 [zitiert wird nach der 1986 erhältlichen Ausgabe]

[3] Der Polizistenmörder, S. 91

[4] Per Wahlöö: Grisen är ett gatfullt djur. In: Tryckpunkter. 23 svenska författere i egen sak. Stockholm 1967, S. 174-181. Zit. n. Paul G. Buchloh/Jens P. Becker: Der Detektivroman. Darmstadt, 1978, S. 159

[5] Der Mann, der sich in Luft auflöste, S. 50

[6] Natürlich haben auch das Sjöwall/Wahlöö nicht erfunden. Die Kriminalromane insbesondere des 19. Jahrhunderts – Gaborieau, Leroux, Collins – sind voll von Abschweifungen und Reflexionen – und Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre" beginnt gar mit einer solchen. Aber Sjöwall/Wahlöö haben, wiederum, die Möglichkeiten konsequent ausgeschöpft.

[7] Joachim Bark (Der Kreistanz ums Triviale. In: Trivialliteratur, hg. v. Annemarie Rucktäschel und Hans Dieter Zimmermann, München 1976) bemängelt z.B. (S. 23), dass sich die Sozialkritik neben die erzählte Detektion lagere, wodurch die Kriminalhandlung auseinander- und die Unterhaltung verlorengehe

[8] Der Mann auf dem Balkon, S. 29, hier noch mit dem Zusatz "und der Menschen selber"

[9] Der Mann auf dem Balkon, S. 106

[10] Der Mann auf dem Balkon, S. 109

[11] Endstation für neun, S. 94

[12] Die Tote im Götakanal, S. 19

[13] Die Terroristen, S. 103

[14] Vgl. W. Butt: Vom Polizeiroman zum Anti-Polizei-Roman. Akzente, 1978

[15] Die Terroristen, S. 103

[16] Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordes. Zürich 1975 (detebe 70/IV), S. 337

[17] Hans-Otto Hügel: Der Detektiverzählung auf der Spur, Stuttgart 1978, sieht bei Ed McBain z.B. "eher eine Ansammlung von Polizisten denn ein Team" (S.43)

[18] Endstation für neun, S. 21

[19] Und die Großen lässt man laufen, S. 7. – In den letzten beiden Bänden holen sie die Versäumnisse nach und beschäftigen sich mit der Perspektivlosigkeit der Jugend, als ein Erzählstrang komplexerer Geschichten. Verwunderlich beim sonst so sensiblen Gespür der Schweden für Zeitströmungen, dass dieses Thema erst so spät aufgegriffen wurde.

[20] Der Spiegel, 1985: "Mangel an Umsicht, polizeiliche Übergriffe und Versuche, Fehlverhalten von Beamten zu vertuschen, sind an der Tagesordnung in Frankfurt." (Nr. 41, 7. Oktober 1985, S. 25) – Sjöwall/Wahlöö, 1975: "Es gab massenweise uniformierte Rüpel im Polizeikorps der Stadt, ebenso wie sie nicht selten von bestechlichen und sadistischen Gewaltmenschen befehligt wurden." (Die Terroristen, S. 103)