Rudi Kost

Mit Nestor Burma durch Paris

Annäherung an den Schriftsteller Leo Malet oder Das Leben, wie's brüllt und lacht

Erschienen in: die horen 148 (1987)


Die Rue des Petits Champs zieht sich, an der Nationalbibliothek vorbei, von der Place des Victoires zur Avenue de l'Opera; eine schmale Einbahnstraße von keinem auffallenden Reiz. „Wenn ich tief einatmete, konnte ich beinahe das Parfüm der eleganten Damen riechen, die aus der Rue de la Paix kamen oder dorthin gingen." („Stoff für viele Leichen")

In der Verlängerung der Rue des Petits Champs stößt man auf die Rue de la Paix. Die Straße der Juweliere. Einer heißt Burma. Nestor wird doch nicht... Aber nein, die gestohlenen Klunker der Marquise de Forestier-Cournon („Die Nächte von St. Germain") hat er ja schließlich doch noch vollzählig aufgetrieben und brav abgegeben. Wenn es um einen Auftrag geht, ist Nestor Burma heikel und treu und ehrlich. Ansonsten – na!

Die Privatdetektei Fiat Lux in der Rue des Petits Champs lehnt Trivialitäten wie Scheidungsfälle und Ehebruchsgeschichten grundsätzlich ab. Wenn Nestor Burma, „Direktor und Hauptaktionär (von ,Aktion', Hinweis auf meine Energie)", aktiv werden soll, müssen härtere Sachen in Aussicht stehen. Ob Nestor seinen Dugas 12 am Quai d'Orleans abstellt oder ob er am Boulevard Saint-Germain der Metro entsteigt: wo er auftaucht, ist die erste Leiche nicht weit, und ihr folgen schnell weitere. Wenn Leo Malet gut in Form ist, bringt er es ohne Mühe auf 14 Stück: „Stoff für viele Leichen", fürwahr.

Eigentlich ist die Renaissance von Leo Malet und seiner Nestor-Burma-Serie verwunderlich. Im Vertrauen gesagt: literarische Bäume reißen beide nicht aus. Vor den Augen des verwöhnten und kritischen Krimi-Lesers hat sogar herzlich wenig Bestand. Die Handlung folgt dem immer gleichen Schema und ist entweder durchsichtig oder so verwickelt, daß es gewaltsamer Befreiungsschläge bedarf, die Knoten zu lösen; die Mörder sind fies; der Held ist edel; der Ton ist rüde. Alles in allem, als schicke sich Eddie Constantine an, Humphrey Bogart zu imitieren.

Und doch, und doch ... Gerade die Häufung der Klischees und der Leichen, eben das Ungehobelte machen ihren Charme aus. Malet und Burma sind im Wald der gepflegten Literatur das Unterholz, der stachelige Wildwuchs, für den man sich heute so begeistert. Worüber man glatt übersehen kann, daß auch das vermeintlich Ursprüngliche manchmal ein kunstvolles Arangement ist.

Hinüber über die Pont Neuf auf die Île, über die Place Dauphine mit ihren Geheimtip-Restaurants zum Quai des Orfèvres. Die magische Adresse für den Krimi-Fan. Hier hatte auch Kommissar Florimond Faroux sein Büro, in respektvoller Entfernung zu Maigret. Nestor Burma ist seinerzeit einfach zu ihm hineinmarschiert. Jetzt tasten erfahrene Hände jeden Besucher ab. Die Angst geht um in Paris, die Angst vor Bomben.

Der muffelige Kommissar und sein freundschaftlich-gespanntes Verhältnis zum Helden gehören ebenso zur Spielregel wie die unumstößliche und jedesmal aufs Neue zu beweisende Tatsache, daß der Privatdetektiv stets ein wenig schlauer ist als die Polizei.

Der Dauerflirt mit seiner Sekretärin Helène; der in jedem Roman obligate Schlag auf den Schädel, der Nestor für eine Weile außer Gefecht setzt und den er geradezu herbeisehnt; der reichliche Einsatz der Revolver; die „show downs" am Ende, die das klassische „dénouement" ersetzen: die Mechanik des Kriminalromans läuft bei Leo Malet wie geölt, und man muß schon genau lesen, sich auf die Anspielungen und die trotzige Ironie einlassen, um den Hintersinn der Schmiermittel zu entdecken. Malet nimmt das Wort von den Spielregeln verteufelt ernst: Regeln, mit denen man spielen kann. Er macht das weniger raffiniert denn routiniert. Unverschämt routiniert.

Der erste Kriminalroman von Leo Ma­let ist 1941 erschienen und verdankte seine Entstehung der schlichten Tatsache, daß für Krimis halbwegs anständige Honorare gezahlt wurden. Die französischen Verlage huldigten in der Kriegszeit der gleichen Devise wie die deutschen noch in den fünfziger und sechziger Jahren: ein echter Krimi kann nur von Angelsachsen stammen, und also nannte Malet sich Frank Harding und seinen Helden, anagrammatisch, Johnny Metal. Er war ein fleißiger Autor, seine Bibliographie umfaßt rund 50 Kriminalromane, von denen die meisten freilich so schnell vergessen sein dürften wie sie geschrieben wurden.

Nestor Burma ist 1943 aufgetaucht (in „120, Rue de la Gare"). „Sehr schnell", sagt Leo Malet, „kam diese Art von Eitelkeit in mir auf: Warum schreibe ich nicht mal was unter meinem Namen? Etwas, das vielleicht ein bißchen besser ist. Ich dachte an etwas Neues."

Nestor Burma kommt mit einem Sanitätszug in Lyon an. Wie kurz zuvor Leo Malet. Bei Kriegsausbruch war er zunächst als Pazifist von den Franzosen und dann von den Deutschen verhaftet worden, weil sie ihn für einen Soldaten in Zivil hielten. Er verbrachte zehn Monate als Kriegsgefangener in einem reichsdeutschen Sammellager.

Nestor Burma und Leo Malet: das ist eine Seelenverwandtschaft. Held und Schöpfer dürften mehr gemein haben als nur das Geburtsdatum 7. März 1909. Burma ist eine Projektion Malets, gebündelte Welterfahrung, gewürzt mit einem Schuß Sehnsucht nach dem Damals. In einem gallig-bitteren Selbstportrait, 1970 geschrieben, läßt Malet Nestor Burma auf seinen geistigen Vater treffen, und da heißt es:

„Dem Kerl, der im Türrahmen auftauchte, stand der dauernde Riesenärger im Gesicht geschrieben. Er hatte die Visage eines kleinen Scheißers, der soeben eine Leiche im Keller verbuddelt hat und vor einem Polypen steht, an der Kleidung noch Spuren von Lehm. Er rauchte Pfeife und stieß nervöse Rauchwolken aus. (...) ,0h! Nestor Burma!' sagte er mit einem sonderbaren Lächeln voller Melancholie wie einer, der sich an etwas erinnert, was unwiederbringlich dahin ist."

Burma und Malet sind Nonkonformisten in solchem Maße, daß sie sich beharrlich jeder Einordnung verweigern. Gewiß, die Wurzeln sind auszukundschaften. Bei Leo Malet liegen sie in Montpellier und beim Großvater väterlicherseits: Küfer, „totaler Proletarier" und fanatischer Leser, bei dem der früh verwaiste Malet aufwächst.

Eine Banklehre findet ein rasches Ende, weil Leo sonntags ein Anarchistenblatt verkauft. Er fährt nach Paris, tritt, gerade sechzehn Jahre alt, am Montmarte als Chansonnier auf - der jüngste, den Paris je hatte. Kontakt mit den Anarchisten, Gelegenheitsarbeiten, nie Geld, Quartiere unter den Brücken und in billigen Absteigen, eingesperrt als Vagabund, kleine Gaunereien, ein eigenes „Cabaret artistique d'avant-garde" namens „Le poete pendu" (Der gehenkte Dichter), später im Surrealisten-Kreis um André Breton: eine solche Biographie schreibt nur diese wilde, diese verrückte Zeit. „Brüll das Leben an", heißt eines seiner Gedichte aus der Surrealismus-Phase:

Wie sehr ich euch lieb
ihr hellhäutigen Heranwachsenden aus den Vororten
mit den autoritären Brüsten
kurze Röcke im Spiel meines Scheitems
Hemd des Steppenläufers
Ratsch
das Verlangen zu brüllen wie man weint
bei der Erinnerung an die schweren Platanen von Aix
die engen Gassen von Grasse wie Totenlöcher
ratsch
und meine Gedanken beim Morgengrauen
endlos wie der Blitz

Die Ahnherren von Nestor Burma sind die hartgesottenen amerikanischen Privatdetektive, indessen eher die ungezügelten „Black Mask"-Vorläufer von Übervater Chandler als dessen romantisch überhöhter Edel-Ritter Phil Marlowe.

Kein Wunder, daß Malet gerade in Frankreich, wo man ja die „Série noire" erst auf den Begriff gebracht hat und dem Sujet wie einem Kultgegenstand huldigt - daß er damals, in den Fünfzigern, Konjunktur hatte: drei der Romane werden verfilmt, 1948 erhält er den „Grand Prix du Club des Détectives", 1949 den „Prix du Roman Policier" (Simone Signoret saß in der Jury), 1958 den „Großen Preis des schwarzen Humors".

Hat es mit Nostalgie zu tun, daß Leo Malet (nebenbei: er lebt noch und streut die Legende, er schreibe an einem allerletzten Burma-Roman) in seinem Heimatland mit Neuauflagen und Neuverfilmungen jetzt wieder der Vergessenheit entrissen, bei uns dank der engagierten Edition im kleinen Elster Verlag überhaupt erst entdeckt wird? Ist es ein Symptom? Ein Symptom vielleicht auch für den Überdruß an den emanzipierten, sensiblen, psychologisierenden, an sich und der Welt leidenden Krimi-Helden der Gegenwart?

Nestor Burma ist ständig in Bewegung, dem Trunke und den Frauen herzlich zugetan;  jedes  Dekolleté,  jeder stramme Hintern, und von beidem gibt es reichlich, entlockt ihm anzügliche Bemerkungen (in Liebes-Aktion indessen sehen wir ihn nie) - ein tough guy wie aus dem Modellbuch; aber eher ein Raubdruck denn das Original.

Während in Amerika der Privatdetektiv immer auch etwas Missionarisches an sich hat und seine Aufträge als Feldzüge, sich selbst als einzige Rettung begreift, gleichsam stellvertretend für Gott und sein Land, ist die gallische Variante, wie sie sich in Burma widerspiegelt, weitaus gelassener, auf spöttische Art eigenbrötlerisch, augenzwinkemd jakobinisch.

Er muß sich nicht an irgend jemandem oder irgendwas messen (lassen), muß sich nicht beweisen, er ist Individualist von Natur aus und ganz selbstverständlich ein geselliger Anarchist, der sich nicht von der Welt zurückzuziehen braucht, weil er sie - und sie ihn - nicht versteht. Wo Marlowe und Konsorten die Einsamkeit der Whisky-Flasche suchen, geht Burma ins nächste Bistro oder streift durch die Gassen. Und wenn das Leben brüllt, brüllt er zurück.

„Ich dachte an etwas Neues": dies Neue war der Einfall, jeden Burma-Roman in einem anderen Arrondissement von Paris spielen zu lassen. Wenig mehr als ein Gag zunächst, der indessen bald zur eigentlichen Qualität einer Reihe von Romanen wird, die zwar ohne Nestor Burma kaum zu denken sind, aber allein von ihm nicht leben könnten.

Recht spät erst bekommt die Serie ihren plakativen Untertitel: „Les nouveaux mystères de Paris." Die neuen Geheimnisse von Paris: das ist natürlich eine ebenso schalkhafte wie provozierend anspruchsvolle Anspielung auf Eugéne Sues (Fortsetzungs-)Roman von 1842.

Weniger das Vorbild Eugéne Sue, weniger ein literarisches Programm, vermute ich, steht hinter Nestor Burmas Streifzügen durch die Wildnis der Großstadt Paris als die eigenen biographischen und literarischen Erfahrungen: „Die deutsche Besatzung hatte ihre künstlerische Seite", erzählt Malet in dem (leider nicht sehr sorgfältig editierten) Band „Brüll das Leben an":

„Das Black-out in der Besatzung! Paris ohne Autos war sehr beeindruckend:Diese schwere Atmosphäre, nur ein wenig durch deutsche Patrouillen gestört, dieses absolute Schwarz, das war ein Dekor, in dem ein Kriminalroman spielen kann, und nicht in der hellen Mittagssonne."

Paris allerdings ist in den Romanen um Nestor Burma mehr als bloß Dekor: sonst unterschieden sich Malets Krimis in nichts von den zahllosen anderen, in denen brav die Straßennamen abgehakt werden. Bei Leo Malet ist Paris der eigentliche Akteur. Die Stadt verschlingt die Menschen und spuckt sie wieder aus, Nestor Burma vor die Füße.

Leo Malet hat das Kunststück fertiggebracht, nicht allein die Topographie einer Stadt abzufahren, mit dem Zeigefinger den Stadtplan entlang, sondern seine Romane auf diese Stadt zu beziehen, die Fälle Nestor Burmas begreifbar zu machen aus den Besonderheiten ihrer Handlungsorte. Was sie auch für den Nicht-Krimi-Liebhaber überaus reizvoll macht.

Im 4. Arrondissement („Spur ins Ghetto") hat es Nestor Burma mit den Juden zu tun - für mich einer seiner stimmigsten, atmosphärisch dichtesten Romane und zweifelsohne einer seiner politischsten, weil er auch, zu einer Zeit, als dies in Frankreich nicht opportun war, den latenten Antisemitismus und die Kollaboration während der Nazi-Besetzung anspricht.

Im 6. Arrondissement („Die Nächte von St. Germain") trifft er auf erfolgreiche und verhinderte Schriftsteller, im 5. Arrondissement („Bambule am Boul' Mich'") auf die Bohème und ihre Dienstboten, und was könnte zum 8. Arrondissement („Corrida auf den Champs-Élysée") besser passen als die Schein-Welt des Filmes mit ihren großen Sehnsüchten und den Erbärmlichkeiten hinter glitzernder Kulisse?

Nestor Burmas Abenteuer sind Soziogramme, ohne daß sie theoretischer Fundierungen oder räsonierender Exkurse bedürfen: erzählte Soziogramme.

Die Arrondissements erweisen sich nicht lediglich als Verwaltungseinheiten, sondern als Viertel mit gelebten Eigensinn. Die Topographie schleift ihre Spuren in die Menschen. Und Nestor Burma tastet die Runzeln ab.

„Über die Rue des Canettes und die Rue des Ciseaux gelangte ich wieder auf den Boulevard Saint-Germain. Einflüchtiger Blick hinüber zum ungesunden Diderot-Hotel. Dann nach links.. .. Wir Übertraten den Boulevard, gingen erhobenen Hauptes am Deux Magots vorbei ins Flore und setzten uns an den Tisch neben der Kasse.... Das gute alte Flore! Hatte sich kaum verändert. Höchstens die Gäste, vielleicht."

Natürlich beschert Leo Malet, der ausgekochte Profi, den Parisem und den Paris-Fans ihre Déja-vu-Erlebnisse, lockt die Kenner und die Eingeweihten mit seinem „name dropping". Im „Deux Magots", wissen wir, hockte Sartre klein vor seinem Aperitiv, im „Aux Cris de Paris", erfahren wir, pflegte Brigitte Bardot zu speisen, als sie noch ganz Schmollmund war.

Aber das sind eher periphere Zugeständnisse. Ansonsten meidet Leo Malet bewußt die touristischen Pflichtstationen und führt Nestor Burma und den Leser in die Seitenstraßen und die Hinterhöfe, in dunkle Passagen und schmierige Bistros, weil dort das wirkliche Paris ist: das Paris der Huren und Zuhälter, der kleinen und großen Gauner, der kleinen und großen Bürger, das Paris der Pariser; hier, wo Paris stöhnt, knurrt und stinkt, wo es sich mehr ins Herz schmeichelt als auf den Prachtboulevards.

Nestor Burmas Streifzüge sind handlungsbestimmt, gewiß, und wirken mitunter auch erzwungen, wenn Malet allzu deutlich das selber auferlegte Schema zu erfüllen trachtet. Aber im Grunde sind sie Selbstzweck. Ein Mann geht durch bekannte Gefilde und entdeckt immer noch Neues, atmet die Stadt, saugt ihre Geräusche und Gerüche auf, registriert sie penibel, kommentiert sie sarkastisch. So kann nur einer schreiben, der Paris liebt und lebt, aber selber kein Pariser ist, der sich Distanz und Neugierde bewahrt hat.

Die Burma-Romane Leo Malets sind Kursbücher: erwanderbare Literatur, die zur Fiktion geronnene Realität überprüfbar. Hier, in der Rue Nicolas-Flamel, hat Nestor den Gauner Dédé getroffen, dort, in der Rue Jean-Lantier, die blonde Gaby gesucht; und da, die Rue des Quatre Vents, wo sich Lebailly versteckt hielt, und dort, die Faubourg St. Honoré, wo Jules Rabastens gewohnt hat.

Die schmucken deutschen Malet-Ausgaben im Elster Verlag, wo die gesamte Burma-Serie peu à peu erscheint, jeweils vier Bände pro Jahr, haben als Vorsatzblatt die gleichen Arrondissement-Stadtpläne, wie sie jeder Flic aus der Tasche zieht, wenn man nach dem Weg fragt. Und Peter Stephan, ein exzellenter Paris-Kenner, hat Malet beim Wort genommen und ist Nestor Burmas Spuren jeweils nachgegangen, die Realität in der Fiktion suchend. Was ist geblieben von dem Paris, das Malet beschreibt?

Natürlich ist das eine Suche nach der verlorenen Zeit. Die Romane sind zum Großteil in den fünfziger Jahren entstanden und jonglieren mit einem Paris, das vielleicht damals schon stilisiert war, das vielleicht mehr von dem eigenen Vaganten-Leben Malets geprägt war, als er diese Stadt am eigenen Leibe erfuhr und nicht an seinem Eichenschreibtisch (ein Geschenk Dalìs) nachschrieb. Wie das Paris Maigrets auch stets das Paris Simenons aus den zwanziger, dreißiger Jahren gewesen ist.

Es hat sich so viel geändert. Es hat sich nichts geändert. Gut, die Hallen gibt es nicht mehr, dafür das Centre Pompidou; in der Gemeinschaft der Gaukler und Feuerschlucker hätte Nestor sich wohl gefühlt. Weniger Bistros (die echten), dafür viel Touristennepp und noch mehr Fast-food. In der Rue des Petits Champs riecht man jetzt kein Parfüm mehr, des Abends stockt der Verkehr, die Luft ist benzingeschwängert. Die alten Pissoirs, die Burma gelegentlich als Beobachtungsstand wählt („Mein Näschen. Ach ja, meine Nase!"), haben nüchternen Betonklötzen weichen müssen.

Geblieben sind die Wege: „Über den Pont au Change, den Boulevard du Palais, den Pont Saint-Michel und den Quai gleichen Namens gehe ich zu Fuß auf die andere Seite der Seine, in die Rue Saint-Julien-le Pauvre." („Spur ins Ghetto") Und die Champs-Elysee sind noch, was sie damals waren: „Ein Leben herrschte hier! Wie am hellichten Tag, glitzernd von der Leuchtreklame und den hellerleuchteten Schaufenstern der Geschäfte." („Corrida auf den Champs-Elysee") Selbst an einem regnerischen Wintertag, wenn die Busladungen der Touristen spärlich sind, ist hier tout Paris auf den Beinen, und in der Vorweihnachtszeit korrespondiert dieser unsäglich aufgeblasene Kitsch, wie ihn nur die Franzosen zustandebringen, aufs Trefflichste mit den Drugstores, den schnie-ken Cafes, den herausgeputzten Dämchen und Herrchen.

Der Pariser Flair aber stellt sich erst und immer noch ein, wenn man treu dem Cicerone Nestor Burma folgt. Du verläßt die Hauptstraßen mit ihren Menschengehetze und der schrillen Kaufhaus-Werbung, und ein paar Schritte abseits schon ist die Stille fast unwirklich.

Verträumte Plätze öffnen sich, enge Gassen. An jeder Ecke eine neue Welt. Schiefe Häuser, die darauf warten, daß auch sie die Sanierungspolitik ereilt. Dunkle Passagen, die langsam verfallen. Im Marais, wenn man die schmucke Place des Vosges unter den Arkaden pflichtschuldigst umrundet hat, kommen am Sabbat immer noch die Juden, bleich und ernst, aus den Synagogen. Koschere Metzgereien, mit Eisengittern verrammelt. Unwillkürlich drehe ich mich um, ob mir Michel Issass nicht folgt. Und dort, im Toreingang wartet da nicht Nestor, die Stierkopfpfeife im Mund? Was ist noch Wirklichkeit, was schon Literatur, wenn Paris ganz sachte brüllt?

Anmerkung:
Léo Malet ist am 3. März 1996 gestorben.