Rudi Kost

Der Bulle mit der Maske

Friedhelm Werremeier, Paul Trimmel und die deutschen Kommissare.

Erschienen in: die horen 144 (1986)

 


Für hiesige Verhältnisse ist der Mann ein Phänomen. In ihm bündelt sich, was an Negativ-Assoziationen denkbar ist: er ist ruppig und rachsüchtig, eigenwillig bis zur Selbstherrlichkeit, und wenn er schon einmal lacht, dann gehässig. Er tut grundsätzlich, was ihm beliebt, ihn scheren nicht Vorschriften noch Vorgesetzte. Ein Bulle eben. Eisgraues Haar, eisgraue Augen. Vorzugsweise schwarzes Hemd. Viel Bier und Korn, dazu eine billige Zigarre. Es mieft entsetzlich deutsch und kleinbürgerlich. Der Mann als Freund? Als Helfer gar?

Aber Paul Trimmel, Hauptkommissar, ist immerhin der dienstälteste TV-"Tatort"-Kommissar gewesen, schon so etwas wie eine Institution. Auf elf Fernseh-Fälle (und, bislang, 20 in Buchform) hatte er es gebracht, bis der Tod seines Darstellers seine Bildschirmkarriere in andere Bahnen lenkte. Ein Rauhbein mit, anscheinend, nur schlechten Eigenschaften als Medien-Star; bis zur Geburt des Schmuddel-Kommissars Schimanski war es noch lange hin.

Drei Väter, also: Vorbilder in der Wirklichkeit habe Trimmel, hat es in einer Zeitungsreportage einmal geheißen.[1]

Sein literarischer Vater Friedhelm Werremeier ist Prototyp wie Ausnahmeerscheinung jenes Phänomens, das man Neuer Deutscher Kriminalroman zu nennen sich angewöhnt hat, eine ebenso treffende wie unscharfe Bezeichnung. Der Neue Deutsche Kriminalroman existiert seit nunmehr über zwanzig Jahren,[2] ist also längst kein Phänomen mehr, sondern ein Marktfaktor,[3] die Ab­grenzung zum "alten" deutschen Kriminalroman mithin überflüssig geworden.[4] Überdies lassen sich mittlerweile auch im "Neuen" Deutschen Kriminalroman verschiedene Generationen unterscheiden.

Friedhelm Werremeier gehört zu den Gründervätern. Er veröf­fentlichte 1968 seinen ersten Roman "Ich verkaufe mich exklusiv", der dritte heimische Autor nach Hansjörg Martin und Paul Henricks in der rororo thriller-Reihe und lange Zeit der einzige, der mit einer Serienfigur arbeitete. Hansjörg Martins Leo Klipp, obschon er in mehreren Romanen auftaucht, bekam nie ausrei­chend Profil für eine Serienfigur im eigentlichen Sinne, -ky pen­delt von 1971 bzw. 1973 an zwischen zwei ständig wiederkehrenden Figuren, den Kommissaren Mannhardt in Berlin und Kämena in Bramme, die allerdings beide die Handlungen eher begleiten denn beherrschen,[5] 1973 führt Richard Hey seine Katharina Ledermacher ein, der jedoch nur drei Romane beschieden waren, und erst Felix Huby wendet sich 1977 mit seinem Kommissar Bienzle wieder dem Serienhelden zu.

Huby ist in der Genealogie die Schnittstelle zwischen erster und zweiter Generation. Während die Pioniere – Hansjörg Martin, Paul Henricks, Friedhelm Werremeier, -ky, Thomas Andresen, Michael Molsner, Irene Rodrian – seinerzeit eine Lücke zu füllen hatten, konnte Huby bereits auf deren Erfahrungen aufbauen, und in der Tat scheint der brummige, widerborstige, viertelesschlotzende Schwabe Bienzle beim Hamburger Trimmel in die Schule gegangen zu sein. Retrospektiv betrachtet, machte Huby, gestützt auf die Erfahrungen und den Erfolg Friedhelm Werremeiers, neuen Mut zum Serienhelden: 1978 Gernot Katenkamp von Detlef Wolff, 1980 Jean Abel von Fred Breinersdorfer, 1981 Baltasar Matzbach von Gisbert Haefs, 1982 Elfriede Schuhmann von Lydia Tews, 1983 Martin Kampen von Claus Beling.

Das Mißtrauen der damals jungen deutschen Autoren einer Serienfigur gegenüber ist auf den ersten Blick erstaunlich, gehört sie doch, von Sherlock Holmes bis Maigret, zum Krimi wie der handlungsauslösende Mord. Offensichtlich haben die deutschen Krimi-Autoren anfänglich bewußt auf die Chance verzichtet, die Leser mit einer Serienfigur zu binden.

Auch Hauptkommissar Paul Trimmel ist zunächst eine Nebenfigur und tritt erst mit dem zweiten Roman, "Taxi nach Leipzig" (1970), in den Mittelpunkt. Dazwischen liegt die Fernsehverfil­mung des Romandebüts "Ich verkaufe mich exklusiv" (26. Okto­ber 1969), und weil mit "Taxi nach Leipzig" die ARD-Reihe "Tatort" begonnen wurde (19. November 1970), ist der Schluß durchaus naheliegend, Trimmel sei als Haupt- und Serienfigur vom Fernsehen aufgebaut, vielleicht gar gefordert worden.[6]

Werremeier indessen versichert, von Anfang an habe er Trimmel als Serienfigur konzipiert, und die äußeren Umstände lassen keine Zweifel an dieser Aussage zu.[7] Unübersehbar freilich gibt es Wechselwirkungen zwischen Fernsehen und Buch. Äußere zunächst. Der Aufstieg zur Fernsehfigur verschaffte Trimmel und Werremeier einen Bekanntheitsgrad, wie er auf dem engen deutsche Markt allein mit dem Buch wohl nicht zu erreichen wäre, was wieder zurückwirkt auf das Buch und den Marktwert des Autors und mit der ökonomischen auch eine gewisse literarische Unabhängigkeit sichert.

Die innere Wechselwirkung beschreibt der (Lektorats-) Klappentext zu "Treff mit Trimmel" so: "Die Romanfigur Paul Trimmel wird zur Vorlage für eine Fernsehspiel-Rolle; der unverwechsel­bare Walter Richter spielt sie, und plötzlich bekommt der Trimmel der Romane Züge des Darstellers, der ihn auf den Bildschirm gebracht hat ..."

Das freilich bringt den Autor in ein Dilemma. Er muß, das ist schiere Überlebensnotwendigkeit, etwas gutheißen, mit dem er insgeheim nicht einverstanden ist. Für Werremeier sollte Trimmel ein gesichts- und altersloser Mann um die 50 sein und bleiben – durch die in der Tat unverwechselbare Darstellung Walter Richters indessen bekam er ein Gesicht, und er bekam vor allem Züge, welche die Buchfigur Trimmel einengten. Der Trimmel, wie ihn Walter Richter spielte, war ein polternder, grämlicher, muffiger Mann – der Trimmel, wie er Werremeier vorschwebte und wie er von ihm auch, wenn man nur genau liest, von Anfang an geschildert wird, ist ein weitaus differenzierterer Charakter. Werremeier hat sich später behutsam abge­setzt vom Fernseh-Trimmel: "Trimmel ist nicht Richter, sage ich heute, gerade, weil ich nicht weiß, wer ihn 'besser' hätte spielen können (...) "Authentisch" sind meine Bücher, nicht deren noch so gute filmische Aufarbeitung."[8]

Die Fernsehfigur hat in der Tat die Buchfigur nahezu erdrückt – aber möglicherweise verdankte Trimmel gerade seiner bildschirmgerechten Eindimensionalität die große Popularität. Denn erkennbar füllte er eine Lücke. Er war das Gegenstück zu all den englischen Abenteurern wie in den Wallace- und Durbridge-Krimis und Maigret-Epigonen wie Herbert Reineckers "Kommissar" (im Januar 1969 gestartet) – und auch Sjöwall/Wahlöös Martin Beck, den man in Deutschland eben zu entdecken begann, war ja einer dieser duldenden, sensiblen, introvertierten Typen mit unendlichem Verständnis für alles und jeden. Vor allem deutsche TV-Kom‑missare schienen direkt von behördlichen PR-Abteilungen erfunden und ohne Fehl und Tadel zu sein. Dem täglich erlebbaren tatsächlichen Verhalten der Polizei Ende der 60er Jahre entsprach das nicht mehr.

Trimmel war anders: saftig, bodenständig, hemdsärmelig; ener­gisch zupackend und nicht lange räsonierend. Mit ihm hielt ein Stück Realität Einzug in die bundesdeutschen Wohnzimmer – und in den bundesdeutschen Kriminalroman.

Der Polizeiroman als Untergattung des Genres Kriminalroman ist relativ jungen Datums, im Gegensatz zur Figur des Polizei-Kommissars, die jedoch jahrzehntelang im Grunde nichts anderes war als ein verbeamteter Privatdetektiv: ein Außenseiter, ein Eigenbrötler, ein Exzentriker, auf jeden Fall ein Individualist, der seine eigenen Wege geht, gegen den Widerstand des Apparats und gerade deswegen erfolgreich; der stets etwas beschränkte Assistent als Anhängsel verweist deutlich auf das Muster Holmes/Watson.

Der eigentliche Polizeiroman bekommt als Gattung erst nach dem Zweiten Weltkrieg Bedeutung. Die verfeinerten Techniken polizeilicher Ermittlungsarbeit liefern inzwischen Spannungselemente genug für einen Kriminalroman, was im deutschen Sprachraum seit Mitte der 50er Jahre Frank Arnau auszunutzen begann in einer Reihe von (allerdings vorzugweise in Amerika spielenden) Romanen, die wie eine Verkörperung des terminus technicus "police procedural" schienen.

Mehr und mehr, wenn auch unterschiedlich konsequent, binden die Autoren fortan ihre Figuren in die Gesamtorganisation ein. Der Polizeiapparat selbst ist der Held bei Ed McBain, Joseph Wambaugh und Sjöwall/Wahlöö, nur vor diesem Hintergrund sind Einzelpersönlichkeiten wie Steve Carella (McBain) oder Martin Beck (Sjöwall/Wahlöö) verstehbar. Die Einzelfiguren mögen zwar erfahrener, intelligenter, phantasievoller sein als ihre Kollegen, ihre detektivische Funktion können sie jedoch nurmehr im Kollektiv erfüllen, sie sind ein Rädchen in einem großen, bei Sjöwall/Wah‑löö auch als Moloch erlebten Getriebe, dessen Lauf sie mit individuellen Aktionen nicht beeinflussen können.

Werremeier geht da einen Schritt zurück. Sein Trimmel ist wieder "ein Einzelgänger; ein alter Bulle, der sich von der Herde getrennt hat".[9] Zwar hat auch Trimmel seine Leute, doch sie stehen deutlich im Schatten des Meisters, sind eher Laufburschen und keinesfalls gleichberechtigte, gleich qualifizierte Kollegen: "Trimmel mit seinen noch so verrückten Ideen (...) fehlt eben doch an allen Ecken und Enden."[10]

Diesem Schema folgen überraschenderweise alle deutschen Kommissare, die in der Trimmel-Nachfolge entstanden sind. Gewiß liegt das auch an der größeren literarischen Attraktivität der Einzelfigur (die auch schriftstellerisch ökonomischer zu handhaben ist und die für einen freien Autor hierzulande materiell notwendige Adaption durch das Fernsehen leichter macht) und wohl auch an der Einsicht, daß Sjöwall/Wahlöö ein Muster vorgegeben haben, das allenfalls nachgeahmt, nicht jedoch weitergeführt oder gar übertroffen werden kann.

Gleichwohl, dieser Umschwung verdient nähere Betrachtung. Der eigentliche Grund für das Mißtrauen der deutschen Autoren gegenüber einer Kommissar-Figur wird ja, wenn vielleicht auch nur unbewußt, ein tiefsitzendes, aus der jüngsten deutschen Geschichte erklärbares Mißtrauen gegen die Polizei generell gewesen sein. Man darf nicht übersehen, daß der moderne deutsche Kriminalroman zeitgleich mit jenen Strömungen zu entstehen beginnt, die in der Studentenrebellion von 1968 gipfeln und nachfolgend in der sozialliberalen Ära kanalisiert werden.

Der "neue" deutsche Kriminalroman verwirft das sterile Rätselspiel und ist stattdessen sensibel geworden für die virulenten Themen der Zeit: die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit, damit auch die Auseinandersetzung mit überlebten kleinbürgerlichen, teils faschistoiden Gesellschaftsstrukturen; die Hinwendung zu den sozial Depravierten; der Versuch, Kriminalität in ihren psychosozialen Wurzeln zu erklären. Ein Polizist als Vertreter des Staates ist daher in einer Situation nicht opportun, da man beginnt, die Fehler und Versäumnisse dieses Staates aufzudecken – es sei denn als Negativ-Figur.

So weit gingen indessen nur Michael Molsner und -ky, die, kein Zufall, ideologisch am schärfsten formulierenden Kritiker des Staates Bundesrepublik. -kys Brammer Kommissar Kämena ist nur eine Marionette der Mächtigen und zu keinem Eigenleben mehr fähig; Molsners Kommissar Sommerfeld wird als Prototyp des faschistoiden Staatsvertreters geschildert. Sjöwall/Wahlöö in Schweden bauen gleich mehrere Sympathieträgern auf, mit deren Hilfe sie die Organisation Polizei als Sinnbild des Staates von innen heraus kritisieren. Richard Hey, auf deutscher Seite, geht einen ähnlichen Weg. Seine Katharina Ledermacher ist eine ausgeprägte Individualistin, die sich indessen mit der Binnenstruktur der Polizei und deren ideologisch-politischen Grundlagen intensiv und engagiert auseinandersetzt. Sie stellt sich nicht außerhalb der Polizei, sondern versucht gleichsam einen langen Marsch, um ihre Vorstellungen einbringen zu können. Doch das Beharrungsvermögen der Polizei ist stärker, Identifikationsprobleme sind die Folge, und der Entfremdung von der Arbeit und dem Arbeitgeber ist nur mit einem radikalen Schnitt zu begegnen: wie Lennart Kollberg bei Sjöwall/Wahlöö quittiert auch Katharina Lederma­cher den Polizeidienst.

Der Ausweg ist in der Tat nur der Einzelgänger, der sich, so gut es geht, seinen Freiraum schafft, der dem Polizeiapparat zwar – mehr oder weniger – distanziert gegenüber steht, seine Duldungsfähigkeit jedoch nicht über die Maßen strapazieren muß, der Ausbruchsversuche aus der Vereinnahmung durch das Kollektiv unternehmen kann, ohne die Notwendigkeit der Institution Po­lizei grundsätzlich in Frage zu stellen. Der Einzelgänger-Kommissar ist in gewisser Weise auch die ernüchterte Reaktion auf die Kollektiv-Euphorie der 68er-Bewegung. Die Zukunft gehört dem kritischen Indivudualisten – und so ist auch die Kommissar-Figur wieder akzeptabel geworden.

Friedhelm Werremeier hat dazu die Initialzündung gegeben und konnte dies auch tun, weil er erklärtermaßen keine so scharfen gesellschaftskritischen Maßstäbe anlegt wie Sjöwall/Wah‑löö, Richard Hey, -ky oder Molsner. Werremeier hat nicht die "Wende" vorweggenommen – aber er hat seit jeher darauf bestanden, lediglich Zustände darzustellen, das allerdings möglichst realistisch und detailliert ("Ich bin Polizist und halte mich an die Fakten", sagt Trimmel[11]), und die Interpretation dem Leser zu überlassen.

Das verrät den Journalisten und Reporter Werremeier. Seinem Trimmel schreibt er ein aufklärerisches Interesse zu, das auf den ersten Blick sonderbar anmutet: "Ich bin meist schon ganz zufrieden, wenn ich weiß, warum einer was getan hat. Ganz egal, was. Und ob sie ihn drankriegen. Manchmal durchaus ne Art Privatvergnügen ...";[12] oder, ein paar Bücher später, noch deutlicher: "Im Grunde ist es egal – unterlassene Hilfeleistung oder Mord und Totschlag. Was kratzt es mich, ob sich da einer zwei oder zehn Jahre einfängt oder lebenslänglich? Ich glaub, ich will nur noch wissen, was da auf diesem Parkplatz tatsäch­lich passiert ist!"[13]

Der inneren Mechanik eines Verbrechens also und deren (dann auch sozialpsychologischen) Hintergründen gilt das Interesse Werremeiers und Trimmels. Damit scheint ein moralischer Anspruch abgebogen, der Kriminalbeamte zum reibungslos funktionierenden Erfüllungsgehilfen degradiert – daran zerbrechen ja Lennart Kollberg oder Katharina Ledermacher, weil die auferlegte Pflicht ihnen absurd erscheint, wenn der Täter nur ein Opfer der Umstän­de und deshalb nicht der eigentlich Schuldige ist.

Gleich der zweite Roman "Taxi nach Leipzig" zeigt Trimmel jedoch in einer ungewöhnlichen Privatmission. Heimlich und unerlaubt reist er in die DDR, nur auf den vagen Verdacht hin, daß beim Tod eines DDR-Kind mit West-Schuhen vom Vater aus Hamburg etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könnte. Derartige Privatmissionen gehören zum Muster des Genres: der Held beweist sich oder seinen Kollegen und Vorgesetzten (und dem Leser), wie gut er ist – ohne Privataktion keine Lösung des Mordrätsels.

Doch Werremeier verstößt vorsätzlich und programmatisch sowohl gegen das Schema wie gegen das Recht. Trimmel ermittelt tatsächlich einen Fall wenigstens von Euthanasie, wenn nicht gar von Kindestötung. Aber er hält ihn von den Akten und damit der Strafverfolgung fern, er läßt die Beteiligten laufen und die Sache auf sich beruhen. Freilich nicht aus Mitleid, sondern in der Einsicht, daß eine Strafverfolgung allen Beteiligten nur Schaden brächte und niemandem nützen würde, auch nicht der sogenannten Gerechtigkeit: aus Erfahrung weiß Trimmel, daß es vor Gericht zwar um Recht, selten jedoch um Gerechtigkeit geht, daß die Wahrheit eine "geschundende Hure" ist.[14]

Hier sind bereits wesentliche Züge von Trimmels Charakter und von Werremeiers Werk angelegt. Wiederholt hat Werremeier angesprochen und kritisiert, wie schwierig die Wahrheitsfindung sich gestaltet. Trimmels geradezu fanatische Suche nach Wahrheit, nach dem Wissen um die Vorgänge ist gleichsam wissenschaftlich: er findet etwas heraus, möglicherweise sogar die Wahrheit, aber die Konsequenzen sind höchstens mittelbar seine Sache, weil die von ihm ermittelten und vorgelegten Beweise und Indizien die Grundlage des Prozesses sind. Trimmels stereotypes Insistieren, ihn interessiere nicht, was mit dem Täter passiere, ist freilich nur eine Schutzbehauptung, eine Flucht vor der moralischen Konsequenz seines Tuns: ein Selbstschutz.

Es interessiert ihn sehr wohl. Als Pragmatiker weiß er, wie die Allianz von Advokaten und Psychiatern die Wahrheit zurechtzubiegen und ein Gericht zu manipulieren vermag, zum Nutzen der Klienten, aber zum Nachteil der Wahrheit und erst recht der Gerechtigkeit: der Psychiater Kemm vollführt – vor Gericht! – eine Kehrtwendung und bescheinigt seiner in Wirklichkeit voll verantwortlichen Patientin eine Schuldunfähigkeit, nur um sie vor einem Lebenslänglich zu bewahren ("Der Richter in Weiß"); der Anwalt Zanck wäre bereit, seinen Mandanten ungerechtfertigterweise wegen vierfachen Mordes anklagen zu lassen – dafür nämlich bekäme er ohne Probleme einen "Jagdschein", nicht jedoch für den einen Mord, den er tatsächlich begangen hat ("Trimmel hält ein Plädoyer").

Deswegen spielt Trimmel selber Richter und wird dann doch wieder zu einer moralischen Instanz. Allerdings nur dann, wenn er ahnen kann, daß dem Täter oder Verdächtigen die Unmöglichkeit der gerichtlichen Wahrheitsfindung zum Schaden gerät.

Das ist das Maigret-Muster: Mitleid mit dem Täter, der Kriminalbeamte zwar seinem gesetzlichen Auftrag verpflichtet, doch nicht unempfindlich für die menschliche Seite. Das Mitleid Maigrets für die Täter erschöpft sich in verbalem Verständnis, Trimmel hingegen handelt – und weit konsequenter, als dies Sjöwall/Wahlöös Figuren jemals getan haben. Er läßt ein wichtiges Beweisstück verschwinden ("Ohne Landeerlaubnis") und reduziert die vorsätzliche Flugzeugentführung des Max Bergusson zu einer Affekthandlung. Der Mensch und sein Motiv sind ihm verständlich, und er kann auf diese Weise auch wieder wett machen, daß die Polizei bei den Ermittlungsarbeiten geschlampt hat – nur deshalb hatte es überhaupt zu der Tat kommen können. Vor Gericht allerdings wäre das mit Sicherheit nicht zur Sprache gekommen.

Das ist Trimmels Janusköpfigkeit. Er wird als grämlich, mürrisch, scheinheilig, ordinär beschreiben, doch das ist nur die Oberfläche. In Wahrheit ist er ein Rauhbein voller Zärtlichkeit und insofern keine Ausnahmerscheinung im Genre. Mit seinem Trimmel schlägt Werremeier die Brücke zur amerikanischen hardboiled-Tradition, die im deutschen Kriminalroman nie richtig aufgegriffen worden ist.

Der sensiblen Rauhbeine aller Ahnherr ist Chandlers Philip Marlowe. Dessen Zärtlichkeit ist pure Romantik, und sie wird mit jenem Zynismus überspielt, der seitdem zum Markenzeichen amerikanischer Krimi-Helden geworden ist. Trimmel allerdings ist kein Romantiker, dazu ist er viel zu pragmatisch und, aus welchen Gründen auch immer, viel zu desillusiniert. Den Zynismus ersetzt Werremeier durch Ruppigkeit; damit tarnt Trimmel seine Verletzlichkeit, seine Sensibilität, sein Mitleid: sich. Trimmels Ruppigkeit ist eine Maske – und weil der Schauspieler Walter Richter als Trimmel-Darsteller selten dahinter blicken ließ, ist von Trimmel in den Fernseh-Adaptionen (und damit im Bewußtsein der Rezipienten) nur diese eine Seite, der rauhe Trimmel, übriggeblieben.

Trimmel ist der Prototyp des prä-emanzipatorischen Mannes, der sich nicht "einbringt", sondern der seine "Innerlichkeit" nur unbeholfen auszudrücken vermag und sich hinter seiner Unzulänglichkeit verschanzt. Er ist ein Mann zwischen den Generationen, der Gefühle hat, sie indessen nicht zeigt, der scheinbar wenig nachdenkt über sich und sein Verhältnis zu anderen, stattdessen an einem einmal aufgebauten Selbstbild festhält und darum auch nicht in der Lage scheint, sich selber in Frage zu stellen, der seine Betroffenheit nur ruppig mitteilen kann.

Aber diesem Trimmel wird von seinem Autor auf drastische Weise nahegebracht, daß seine Rauhbein-Maske nicht nur vor den Kopf stößt, sondern tatsächlich auch eine Gefahr für andere sein kann. In seinem schon manischem Bemühen, einem Staranwalt üble Machenschaften nachzuweisen, verschuldet er den Selbstmord eben jenes unschuldig Inhaftierten, dem er eigentlich zur Freiheit verhelfen wollte ("Trimmel hält ein Plädoyer"). Und als sein Kollege und Freund Höffgen durchdreht und seine Dienststellung für private kriminelle Aktionen mißbraucht, muß er sich fragen, ob nicht sein – gewohnt ruppiges – Verhalten Höffgen gegenüber die Katastrophe erst ausgelöst hat ("Hände hoch, Herr Trimmel!") Beidesmal wird Trimmel in tiefe Verzweiflung gestürzt, die nicht ohne nachhaltige Folgen für sein Erscheinungsbild bleibt. Bei dem alters- und gesichtslos gedachten Trimmel zeich­net sich doch eine Entwicklung ab.

Die "Maschine zur Aufklärung von Verbrechen aller Art", wie Trimmel einst eingeführt wurde,[15] erweist sich plötzlich als gar nicht mehr so seelenlos. Der Polizist Trimmel wird Mensch, mit gelinden Zweifeln an seiner Berufsrolle ("Insgeheim sagt er sich inzwischen sogar, daß er's den Leuten nicht nur nachempfinden kann, daß sie kein Vertrauen zur Polizei haben, sondern daß er als Vater möglicherweise genauso handeln würde")[16], mit Lustlosigkeit ("wenn Sie nicht wären, könnt ich mir den Fall inzwischen wahrscheins am Fernseher angucken. Wobei ich sagen muß, daß es mir im Grunde gar nicht so unrecht wär ...")[17], gar zutiefst depressiven Momenten ("im Grunde sollte er vorzeitig in Pension gehen, denkt er, ob er Lust dazu hat oder nicht. Petersen gibt ihm neuerdings bei jeder Gelegenheit kontra, sein Lieblingspolizist Höffgen hat total verrückt gespielt, in diesem Fall Bothüter wurde sogar Laumen mucksch, nun auch noch Karin Stiller ... Polizisten von gestern, denkt er, sterben aus wie die Mammuts ...")[18].

Niedergeschlagen beklagte er sich, aus eigentlich nichtigem Anlaß, bei seiner Lebensgefährtin Gaby: "Ich hab manchmal einfach keine Lust mehr!" Als sie ihn damit zu trösten versucht, daß es bis zu seiner Pensionierung ja nicht mehr weit sei, antwortet er: "Ein Tag ist zuviel!"[19]

Wem es bis dahin verborgen geblieben war, weiß es jetzt: Trimmels Ruppigkeit ist weder Misanthropie noch Attitüde (wie bei Schimanski), sondern allmählich bröckelnde Maske. Trimmel, um im Jargon zu sprechen, macht einen Selbstfindungsprozeß durch, der ihn seinem eigentlichen Wesen näherbringt.[20]

Werremeier leitet damit schon behutsam über auf die Zeit nach Walter Richter. Daß Richter einmal physisch nicht mehr in der Lage sein werde, den Trimmel zu spielen, war abzusehen – "Trimmel und Isolde", der letzte mit ihm verfilmte Roman, nimmt, zufällig oder nicht, auf seine (alters-) schwache Konstitution Rücksicht und verlangt ihm wenig Aktion ab. Den nötigen Darstellerwechsel nutzt Werremeier zu grundlegenden Korrekturen an dem gewohnten Trimmel-Bild. Er riskiert den möglichen Zuschauerschock, fängt ihn aber geschickt auf.

"Wer einmal lügt", das erste Fernsehspiel mit dem neuen Trim­mel Gerd Kunath, zugleich der Auftakt einer eigenen, aus der "Tatort"-Serie herausgelösten Trimmel-Reihe, zeigt Trimmel von seiner sanften, nachdenklichen Seite – und als Randfigur, wie einst im ersten Roman "Ich verkaufe mich exklusiv". Gleichzeitig aber offeriert der Film nicht eben nur eine neue Geschichte mit Trimmel, sondern ist eng verzahnt mit dem bisherigen Geschehen um die Figur und greift sogar auf jenes Ereignis zurück ("Hände hoch, Herr Trim‑mel"), mit dem die Öffnung der Figur eingeleitet wird: ausgerechnet der Ex-Kollege Höffgen ist der Hauptverdächtige bei einem Geldtransport-Überfall.

Mit Trimmel, dem Polizisten von gestern, muß weiterhin gerechnet werden.



[1] Borghild Groehnke/Klaus Kuhnigk: Kommissar Trimmel hat drei Väter ... Bild am Sonntag, 24. September 1972

[2] Hansjörg Martins "Gefährliche Neugier" (1965) ist der Beginn des Rowohlt-Engagements für deutsche Autoren und, so der allgemeine Konsens, damit des Neuen Deutschen Kriminalromans

[3] In den einschlägigen Taschenbuchreihen erschienen 1983 insgesamt 55 Titel von deutschsprachigen Autoren, das entspricht einem Anteil von 17,8 Prozent aller Titel, 1984 waren es 61 Titel (21,2 Prozent), 1985 kam man auf 51 Titel (18,4 Prozent). – Die Statistik verdanke ich Dr. Hans-Gottfried Kuhn (Esslingen)

[4] Alle Diskussionen der letzten Jahre haben gezeigt, daß der deutsche Kriminalroman vor 1965 auch als Gegenbeispiel keine Rolle mehr spielt. Vergleichsmaßstab ist der internationale und hier überwiegend der angelsächsische Kriminalroman (vgl. Jochen Schmidt: Promotion für eine mindere Ware? In: Der Neue Deut­sche Kriminalroman. Beiträge zu Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Hg. v. Karl Ermert u. Wolfgang Gast. Loccum 1985)

[5] Erst in "Friedrich der Große rettet Oberkomissar Mannhardt" (1985) konzentriert sich -ky auf die Figur

[6] Matthias Schmitz/Michael Töteberg: Mord in der Lüneburger Heide. Über -ky und andere Autoren des neuen deutschen Kriminalromans. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur. Band 8, hg. v. Reinhold Grimm und Jost Hermand, Frankfurt 1978 (suhrkamp taschenbuch 457), S. 176

[7] Zum Beispiel folgt die Fernsehadaption von "Ich verkaufe mich exklusiv" weitgehend dem Roman, Trimmel bleibt Nebenfigur. Vgl. auch Thomas Radewagen: Ein deutscher Fernsehbulle. Trimmel – der "Tatort"-Star und seine Mediengenese. Berlin 1985

[8] Friedhelm Werremeier: Warum nicht den Kriminal- oder Polizeiroman vom Odium des Kreuzworträtsels zu befreien? In: Börsen­blatt für den Deutschen Buchhandel 61, 15. Juli 1981. S. 1846–1848

[9] Ich verkaufe mich exklusiv. Heyne Krimi 2035, 1983 S. 122. – Bei seinem Verlagwechsel von Rowohlt zu Heyne hat Werremeier seine sämtlichen Bücher überarbeitet

[10] Ein EKG für Trimmel. Heyne Krimi 2088, 1984, S. 114

[11] Trimmel hält ein Plädoyer. Heyne Krimi 2075, 1983, S. 75

[12] Taxi nach Leipzig. Heyne Krimi 2021, 1983, S. 179

[13] Eine Leiche schreit um Hilfe. In: Treff mit Trimmel. Heyne Krimi 2141, 1985, S. 33

[14] Trimmel hält ein Plädoyer, S. 127

[15] Der Richter in Weiß. Heyne Krimi 1985, 1982, S. 201

[16] Trimmel und das Finanzamt. Heyne Krimi 2000, 1982, S. 39

[17] Trimmel und das Finanzamt, S. 152

[18] Trimmel und Isolde. Heyne Krimi 2063, 1983, S. 75

[19] Trimmel und Isolde, S.98

[20] In "Was ist los mit Trimmel?", Stuttgart 1986, habe ich darüber zu spekulieren versucht